Dresden

Juli 25, 2010

Bevor wir nach Dresden fahren, spazieren wir in Braunschweig noch ein wenig durch die Innenstadt. Die Teenagerklamottenkette New Yorker betreibt hier eine riesengroße Filiale mit einer riesengroßen Videowand, auf der bei Nacht so Sachen wie beispielsweise Lady Gaga zu sehen sind. Man steht dann gewissermaßen am Times Square von Braunschweig. In Braunschweig ist nämlich das Hauptquartier von New Yorker. Wieder was gelernt.

In Richtung Dresden wird es immer grauer und nebliger und regnerischer. Wir kommen an, es bleibt noch recht viel Zeit, selbige würden wir gern bei einem Kaffee totschlagen. Wir malen uns aus, wie wir gleich in irgendeinem gemütlichen, normalen Lokal in der Ecke sitzen und bei einer Tasse deutschem Filterkaffee eine Stunde vor uns hindösen werden, während an der Theke ein sächsischer Kellner ebenfalls vor sich hindöst. Wir finden exakt das Lokal aus diesem Wunschtraum, aber als wir hereinkommen, ist Bombenstimmung und Hochbetrieb. Heute ist nämlich Eröffnung der Grillsaison. Und weil es mittlerweile gießt wie aus Eimern, findet die Grillsaison drinnen statt. Ein Tisch mitten im Raum ist noch frei, wir werden links und rechts von rasenden Kellnern umkreist, neben uns bedienen sich fröhliche Familien mit Senf und Ketchup, ich greife zum Laptop und mache irgendwas im Internet, das Fenster steht weit offen, es zieht.

Dann doch lieber ins Programmkino Ost. Programmkinos, denkt man immer, müssen alt und cool und aus Holz sein, mit lauter abgestelltem Gerümpel aus 300 Jahren Filmgeschichte und einem Vorführer, der noch die Brüder Lumière persönlich gekannt hat, aber nein, dieses Kino ist schon wieder schick und nagelneu, genau wie gestern in Braunschweig. Allerdings ist es nur von außen neu, der Saal ist alt, aber man hat ihn komplett modernisiert, eigentlich sind nur der Fußboden und die Decke historisch. Außerdem gibt es noch drei weitere Säle. Es ist Freitag abend, der Laden läuft, Leute stehen Schlange, allerdings nicht alle für unseren Film, die meisten eher für „Micmacs“, aber exakt 44 Leute kommen dann doch zu uns. Sven Weser, der Chef, ist im Besitz unerschütterlich guter Laune. Man muß ihn eigentlich sofort ins Herz schließen. Das machen wir dann auch. Wir gehen zusammen essen und telefonieren währenddessen hin und her ˗ Robert soll für die „Bild am Sonntag“ eine sogenannte In&Out-Liste schreiben. Ihm fällt dazu nichts ein. Schließlich fällt ihm doch was ein. Und zwar:

IN

In&Out-Listen

Leute, die In&Out-Listen schreiben

Leute, die In&Out-Listen lesen

Leute, die In&Out-Listen ernst nehmen

Und unter OUT dann dieselben vier Punkte nochmal. Das wird dann aber leider abgeschmettert. Ob Anna das nicht stattdessen machen will? Nein, will sie nicht. Oder doch? Oder macht Robert eine andere? Oder nicht? Oder ist das nicht furchtbar unwichtiger Quatsch? Oder sollten wir vielmehr für unseren Film alles menschenmögliche unternehmen? Oder bringt das überhaupt gar nix? Oder essen wir erstmal weiter? Und wann ist eigentlich der Film vorbei?

Das Publikum ist in jeder Gegend anders. In Freiburg war es enthusiastisch, in Braunschweig wurden viele Fragen gestellt, hier in Dresden sind sie eher still, applaudieren dafür gern spontan zwischendurch. Die ergiebigsten Themen sind stets Roberts Rollstuhltraining und Annas Cellotraining. Nur Jacob mußte nichts trainieren und konnte sich entspannen. Wir entspannen uns nicht, wir fahren heute Abend noch nach Berlin zurück und schlafen eine Nacht im eigenen Bett. Wir verabschieden uns sehr herzlich von Sven und rennen dann hinaus durch den Dauerplatzregen zum Auto. Die ersten 50 Kilometer sind wie eine Fahrt durch die Waschanlage, dann läßt der Regen nach, dafür werde ich langsam müde. Kurz vor Berlin stellen wir fest: Das beste Wachhaltemittel sind Schlagersender. Da singt beispielsweise ein erwachsener Mann mit großer Entschlossenheit:

Sieben Tafeln Schokolade / brauch ich, wenn ich dich nicht habe / sonst halt ich’s ohne dich ganz bestimmt nicht aus / allein hier jede Nacht zu Haus.

Männer, die sich mit Schokolade über abwesende Partnerinnen hinwegtrösten, das ist allein schon ein interessanter Fall von Gender Mainstreaming, aber vollends bizarr wird es durch die ultrabombastische Breitwandmusik, die darunterliegt. Anna protestiert zaghaft, aber das muß jetzt sein, das Lied wird bis zum Ende durchgehört und das nächste danach auch noch und dann noch eins. Irgendwann spät nachts liege ich endlich im Bett, und in meinem Kopf kreist noch das ganze Ausmaß des Schokoladenproblems:

Sieben Tafeln Schokolade / sind das mindeste für mich in einer Nacht / denn wenn die Sehnsucht erwacht / werden’s auch schnell mal acht.

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