Der Schlaf ist aus, aber der Traum geht weiter

April 3, 2009

Heute ist der letzte Drehtag. In gut fünfzig Minuten werde ich hinunter gehen zur Tiefgarage, um mit meiner Abteilung, also den Mädels, also Regina und Zora und Kaija, ans Set zu fahren, so wie ich es in den letzten sechs Wochen jeden Tag getan habe. Wir sind jetzt komplett in der Versetzung, also in der Nacht. Wir fangen abends um zehn an zu drehen und hören bei Sonnenaufgang auf. Es ist halb sieben, draußen scheint die Sonne, der Frühling ist ausgebrochen. Ich habe mal wieder einen Schwung Handwäsche erledigt und aufs Balkongeländer gehängt, und da wurde mir klar, daß es der letzte war, denn zuhause gibt´s eine Waschmaschine. Zuhause? In Berlin, wo ich im tiefsten Winter weggefahren bin? Es fühlt sich an, als wären wir schon immer hier in Duisburg gewesen, in den Gassen rund um den Dellplatz, mit Blick auf den dreifachen Schornstein der Stadwerke, der nachts knallgrün angeleuchtet ist. Als hätten wir nie etwas anderes getan, als hier zu wohnen und zu drehen und in den freien Stunden zwischendurch herumzulaufen und auf der Straße ständig den Kollegen zu begegnen. Wir sind hier so eine Art kleines Dorf, wir besuchen uns gegenseitig zum Frühstücken und zum Kochen und zum Essen und zum Trinken und sehen uns dann eh gleich wieder am Set, wo sich im Lauf der Drehzeit jeder in so eine Art klar gezeichnete Comicfigur mit zwei oder drei ganz hervorstechenden Eigenschaften verwandelt hat. Arbeit und Freizeit fließen ineinander und sind eins, man hat sich eine alternative Dreh-Persönlichkeit zugelegt, von der man nicht so genau weiß, ob sie mit dem alten Ich überhaupt noch etwas zu tun hat. Ich habe mittlerweile eine unglaubliche Souveränität darin entwickelt, unseren Regie-Opel durch die füchterlich enge Hoteltiefgarage zu rangieren, ich habe mir am Set immer mehr angewöhnt, mehrere Takes unter einer Klappe zu drehen, bei laufender Kamera dazwischenzureden und mir einzelne Sätze und Momente von den Schauspielern nochmal anders zu wünschen, ich laufe ständig mit dem Arafat-Schal herum, den meine große Schwester mir zu Weihnachten geschenkt hat, und stelle mit Interesse fest, daß ich auf einmal Hiphop höre. Wer bin ich, wer war ich, wo fängt das an, wo hört was auf? Warum dauern Umbauten immer so lang, und wieso fällt mir die eine Stunde, die vergeht, während ich fünf Takes drehe, vergleichsweise überhaupt gar nicht auf? Ist noch jemand zugestiegen, und wenn ja, warum? Hat am Ende mein eigenes Drehbuch mich aufgefressen, habe ich unterwegs jegliche Souveränität verloren und mich in eine meiner Filmfiguren verwandelt, um mich dann vom Kopf auf die Füße zu stellen und richtig herum wieder vom Film ausgespuckt zu werden, mitten hinein in den Frühling? Jedenfalls werden wir heute als erstes die letzte große Szene vom Film drehen, in der zwei Freunde sich hauen und wieder vertragen und zwischendurch ein Stuntman die Treppe hinunterfällt. Dann noch ein paar kleinere, unter anderem einen Gastauftritt von Christian Ehrich, des Hauptdarstellers aus „Neun Szenen“, den ich verehre und schätze und liebe. Weil wir in einem Krankenhaus drehen, werden wir am Ende noch nicht mal laut jubeln können. Wir werden uns heimlich hinausschleichen und uns dann bei Sonnenaufgang auf dem Parkplatz um den Hals fallen. Und dann wird es vorbei sein.

One Response to “Der Schlaf ist aus, aber der Traum geht weiter”

  1. Isa Says:

    wow… faszinierender text über eine schleichende veränderung und ein recht interissantes Leben =)


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